Energiekrise: Sinkende Sparmöglichkeiten bis in die Mittelschicht
Eine repräsentative Online-Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft und des SINUS-Instituts im September 2022 zeigt: Während im Jahr 2020 noch 70 Prozent der Deutschen regelmäßig etwas (an)sparen konnten, liegt dieser Anteil aktuell nur mehr bei 50 Prozent. Insbesondere die Mitte der Gesellschaft gerät zunehmend unter Druck. Im Vergleich zu Werten des Jahres 2020 können aktuell insbesondere in den Einkommensgruppen der unteren Mittelschicht und knapp oberhalb des Medianeinkommens deutlich weniger Menschen Geld zurücklegen
Die Sparmöglichkeiten haben sich nach Auskunft der Befragten in den letzten 12 Monaten deutlich verschlechtert. Im Vergleich zum Vorjahr können 61 Prozent der Befragten aktuell etwas oder deutlich weniger Geld zurücklegen (davon 39 Prozent „deutlich weniger“).
Doch nicht nur die Sparmöglichkeiten gehen zurück: Bereits jetzt haben 61 Prozent auch ihre Ausgaben aufgrund der gestiegenen Energiepreise stark oder sehr stark reduziert.
Wie sich diese Ergebnisse im Denken und Handeln verschiedener sozialer Milieus sowie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken, lässt sich im Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus analysieren. Insbesondere in der Mitte kristallisiert sich auch aus Milieu-Perspektive eine erhebliche empfundene Betroffenheit heraus:
- Auf der einen Seite steht die moderne Adaptiv-Pragmatische Mitte (12% der Bevölkerung), die sich stets flexibel und kompromissbereit an die Veränderungen der Gesellschaft anpasst. Aufgrund von lebensphasenbedingt mittel- und langfristigen Ausgaben (z.B. Immobilienkredit, Bildungsinvestitionen) hat dieses Milieu höhere Fixkosten. Fehlen finanzielle Ressourcen, passt man den Alltagskonsum und die Freizeit-Ausgaben an. Entsprechend haben überdurchschnittliche 72 Prozent der Befragten des Milieus ihre Ausgaben bereits stark oder sehr stark reduziert.
- Auf der anderen Seite der Mitte steht das Nostalgisch-Bürgerliche Milieu (11% der Bevölkerung), im Selbstbild das „Rückgrat der Gesellschaft“. Das Lebensziel bildet ein gutbürgerlicher Lebensstil mit gesicherten Verhältnissen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde auf ein kontinuierliches Wohlstandsversprechen vertraut und dieses auch erlebt. Eine dauerhafte Verschlechterung der finanziellen Situation kommt einem sozialen Gesichtsverlust gleich. Dieses Milieu erlebt mit einem Anteil von 73 Prozent, der seine Spartätigkeit zurückfahren musste, ebenfalls starke Betroffenheit. Die Verärgerung über die Politik ist entsprechend groß.
Auch die bessergestellten Milieus geraten finanziell unter Druck, allerdings in geringerer Intensität.
- Hierunter fällt das Milieu der Performer (10% der Bevölkerung), wo langfristige finanzielle Einschränkungen durchaus bitter aufstoßen würden, aber eigenverantwortliche Lösungen und Verhaltensänderungen („Flucht nach vorn“) gegenüber staatlicher Fürsorge bevorzugt werden. Zwar musste auch dieses Milieu seine Sparquote im Vergleich zum Vorjahr zurückfahren, jedoch von allen Milieus am wenigsten: Noch immer geben 69 Prozent dieser fortschrittsoptimistischen Leistungselite an, Rücklagen bilden zu können.
- Daneben möchte das Postmaterielle Milieu (12% der Bevölkerung) als das „gute Gewissen“ der Gesellschaft dem Ideal einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Lebensführung möglichst nahekommen. Die aktuelle Energie- und Preiskrise dürfte diese engagierte Bildungselite als gesamtgesellschaftliche Chance zu einem (schon) lange propagierten nachhaltigeren Lebensstil sehen. Der Spareranteil liegt hier bei überdurchschnittlichen 63 Prozent.