Erkenntnistheoretische Prämisse der Lebenswelt- und Milieuforschung des SINUS-Instituts ist die Überzeugung, dass eine Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit (die sich nicht objektiv messen lässt) nur über die Erfassung des Alltagsbewusstseins der Menschen gelingen kann. Forschungsgegenstand ist damit die Lebenswelt, d. h. das Insgesamt subjektiver Wirklichkeit eines Individuums. Und das sind alle bedeutsamen Erlebnisbereiche des Alltags (Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum, Medien usw.), die bestimmend sind für die Entwicklung und Veränderung von Einstellungen, Werthaltungen, kulturellen Vorlieben und ästhetischen Neigungen. Aber auch Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Träume zählen dazu.
Das Milieu-Zielgruppenmodell von SINUS orientiert sich an der Lebensweltanalyse unserer Gesellschaft. Zentrales Ergebnis dieser Forschung ist die Abgrenzung und Beschreibung von sozialen Milieus mit jeweils charakteristischen Einstellungen und Lebensorientierungen. Die Sinus-Milieus fassen Menschen zu „Gruppen Gleichgesinnter" zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, d.h. ähnliche Wertprioritäten, soziale Lagen und Lebensstile haben. Sie rücken also den Menschen und das Bezugssystem seiner Lebenswelt ganzheitlich ins Blickfeld.
Methodologisch wird das von SINUS umgesetzt durch den Rückgriff auf aus der Ethnologie entlehnte Erhebungsverfahren wie etwa das narrative Interview – denn die für ein Individuum bedeutsamen Erlebnisbereiche und gelebten Alltagskontexte, seine Einstellungen, Werthaltungen und Wünsche werden am ehesten in einer offenen Interviewsituation transparent, in der die Interviewpartner*innen unbeeinflusst darstellen können, was in ihrem Leben Bedeutung hat und was sie nur am Rande oder gar nicht betrifft. Methodische Königsdisziplin der Sinus-Lebenswelt- und Milieuforschung ist deshalb die non-direktiv angelegte Lebensweltexploration, bei der die Befragten in ihrer eigenen Sprache über alle aus ihrer Sicht relevanten Lebensinhalte berichten können.
Mit der lebensweltanalytischen Methode ist es uns beispielsweise in verschiedenen Untersuchungen zur Wahrnehmung politischer Probleme durch die Bevölkerung gelungen, den Gegensatz zwischen öffentlich hergestelltem Meinungsklima und dem, was die Menschen persönlich bewegt, herauszuarbeiten, und konnten nachweisen, dass die durch die Prozesse öffentlicher (medialer) Meinungsbildung hergestellten Sinnstrukturen der politischen Wirklichkeit (die Politiker manchmal für die Wirklichkeit schlechthin halten) mit den Sinnstrukturen der Alltagswirklichkeit von Menschen selten übereinstimmen. Anders gesagt: Ein Tapetenwechsel im Wohnzimmer wird im Alltagsleben gemeinhin als große Veränderung wahrgenommen, nicht so jedoch ein Regierungswechsel.